Gnosis
Schweige, du Gott!
Blendete sie uns nicht,
die spiegelnde Finsternis?
Und die Augen,
als wir sie uns rieben, dich, Gott,
dennoch zu sehen,
zerstörten wir sie uns nicht
mit den Eiskristallen
der Dunkelheit?
Schweige, du Gott!
Den Nordwind ließest du,
einzig lebendig,
spielen auf der Glasharfe
der Stille
jeden Laut zu ersticken
und uns hörend
taub zu machen —
schweige, du Gott!
Gingen wir nicht, dich zu suchen
und riefen wir nicht
deinen Namen?
Doch wir hörten nicht
den Schrei der Krähe
über dem gefrorenen Meer
und wir sahen kein Tier
in den versteinerten Wäldern
und aller Stein
und alles Eis der Welt
zerschnitt
auf deinem Gesicht
unsere tastenden
Hände
Frau Frankenstein
Die Wände meiner Räume hinauf reihen
schmal, gedrängt und verstaubt sich
Grabsteine
trügerisch viel-
farbig wie ihre Inschriften
die zu lesen man den Kopf neigen muss
nach rechts oder links
demütig oder skeptisch ein
ehrfurchtsvolles Nicken
hilft dir nichts.
Derrida, Eco und Handke stellen sich mir
leichenteilweise
zur Verfügung.
Es ist Eile geboten
kein Kühlraum hält sie frisch
Kafka zum Beispiel
ist schon geronnen
zum säuerlichen
Cliché.
Ich
öffne die Gräber
fleddere die Seiten
mache Versehrungen rückgängig
scheinbar
versätze Glieder
verkopfe Enthauptete
nähe zusammen was
so hoffe ich
nie zusammen gehörte und warte
im Übrigen
auf das belebende
Gewitter
Bruder Geier
Hass
rinnt mir durch die Finger
Sand zu Sand
so stehe ich
in der Öde meines Hasses
in die sich
Namen verirren
die schreibe ich
mit Geierknochen
in den Sand -
dann
der Wind
löscht sie aus mit Geierschwingen
mit Geierkrallen
reißt Sandsturm mir
blutige Zeichen in die Haut
die ich nicht lesen kann
Geierschnabel frisst
meine Leber ich
weiß sie nicht
zu erneuern -
Liebe
fällt mir vom Herzen
Stein zu Stein
so stehe ich
am Rand meiner Liebe
sammele
Steine und Schalen
schreibe Namen
Namen
in den Sand -
dann
die Flut
leckt mir das Blut
von den Füssen
den Händen die
das Herz hielten
das ich zurücklasse
am Strand
im Sand
für dich
Bruder Geier
bevor ich davonschwimme
fischschwänzig -
Mondmärchen
Immer suche ich im Reich der Toten
nach den Lebenden
und im Reich der Lebenden
nach den Toten und so
eilend von Schatten zu Schatten
vergeht keine Zeit...
Der Mond verharrt
rundgesichtig
im Zenit der Nacht:
Spiegelfatzke
Sonnenäffchen — mit dir
soll ich mich begnügen?
Im Pfefferkuchenhaus soll ich wohnen
die Gans mästen
für Hänschen im Glück
und Post tragen
für die Mörderin Margarete
ins Reich der Lebenden?
Wo finde ich denn
die vergiftete Mutter
den erschlagenen Bruder
das ertränkte Kind? Manchmal
vergrabe ich
was gesagt wird
unter der Posteiche und warte
auf Antwort und dann
es war einmal vielleicht
es wird einmal sein vielleicht
kommt der Vater und dann
wird er mich fragen vielleicht: Warum
trägst du die Toten
ins Reich der Lebenden
und die Lebendigen
ins Reich der Toten
Margarete?
Osterbeichte
Der Kaplan vor mir
ein silberbetautes
Purpurei: sein Gott-Dotter umhüllt
vom weissen, sanften Speck
der Vergebung.
Meine Lippen formatieren oblatenrund
Pilger mit langen Haken
Mutterbrustfänger, Kindskopfhenker, Beischlafzänker
und Saugwürmer, die aus Traumschnecken fallen. Die schleimen
blutige Spursätze auf den Kreuz-
weg von mir zu ihm:
ein gebärdendes, wimmelndes
Fußbodenmenetekel eine
Prozession ein
Kreuzzug dabei
ins Allerheiligste einzudringen
Wort für Wort
sich zurückzuschmausen
zum Anfang.
Wohlschmeckend
ruht der Gott-Dotter
im Tabernakel
von Priesterfleisch und Fastentalar.
Meine Sünden haben sich
durchschmarutzt
denke ich
als er mir die Absolution erteilt
ihnen also den Rückweg versperrt
von seinen Träumen
in meine.
Leise
Leise, ihr Nebelgespenster
leise, Raureifblatt
Fluss ruht unter eisigem Fenster
leise, dunkle Nacht!
Leise, ihr Hamadryaden
im weißen Trauergewand
leise, ihr Moorgestalten —
wen kümmerts, wer hier verschwand?
Leise, ihr Städte und Dörfer
leise, du Glocke im Turm
die wilde Jagd schläft leise
und leise naht der Sturm.
Leise, ihr Mörder, leise,
der Dämon der Stille geht um
der silberne Dämon der Stille
und niemand dreht sich um
nach Sylphe und Salamander, nach Undine und Gnom
ganz leise glimmt das Feuer, ganz leise steigt der Strom
die Erde öffnet sich leise, und leis gefriert die Luft
und es verhallt das Geschrei der Lauten ganz leise
wenn Echo es leise verruft.
September
Kahl die Gräber niemand zu betrauern
nur ein toter Vogel auf dem Feld
weil auf allen Gräberfeldern dieser Welt
tote Vögel lauern
Leer die Wälder niemand zu bedauern
auf der Erde nur ein Wolkenband
windet sich in tote Menschenhand
bebt in Regenschauern
Häuser kriechen in die Wiesen
Straßen fließen mohndurchtränkt
meerverlassen Strände –
Dunkel ruhen in Verliesen
wo den Mond kein Auge kränkt
kalte Sonnenhände.
Stundenwalzer
einszweidrei — eins — zwei — drei —
Eins kommt doch niemand ist geladen
zwei wollen gehn man lässt sie nicht hinaus und
drei muss sterben
einszweidrei — vier — fünf — sechs —
Vier kamen um und
fünf entkamen ihre
sechs Henker leben noch immer
einszweidrei — sieben — acht — neun —
Sieben beherrschten von fern
acht kleine Länder in denen brannten
neun Scheiterhaufen
einszweidrei — zehn — elf — zwölf —
Zehn zerschlugen die Sonnenuhr ihre
elfte Stunde aber gebar
zwölf tödliche Schatten
einszweidrei — dreizehn — vierzehn — fünfzehn —
Dreizehn fuhren übers Meer entdeckten
vierzehn Kontinente und assen
fünfzehn Könige einfach auf
einszweidrei — sechzehn — siebzehn — achtzehn —
Sechzehn Ratten trugen die Pest in
siebzehn Dörfer und den Tod durch
achtzehn Jahre Krieg
einszweidrei — neunzehn — zwanzig — einundzwanzig —
Neunzehn Kardinäle gruben in die Erde von
zwanzig Kirchhöfen kleine Gräber für
einundzwanzig gefangene Heilige
einszweidrei — zweiundzwanzig — dreiundzwanzig — vierundzwanzig —
Zweiundzwanzig griechische Götter zeugten
dreiundzwanzig römische Teufel bis es
vierundzwanzig schlug vom Glockenturm
Null Uhr so sagen einige, und andere: die Stunde
Null und manche: die Stunde des
Ein —
Eins — zwei — drei — einszweidrei
Ausweg
Ich denke
ich denke einen weiten, weißen Fluss
und dass ich nichts sehe
als das schimmernde Weiß
auf dem ich gehe
Und sehe
in dem weißen Fluss, auf dem ich gehe
die weiße Sonne und den weißen Mond
und gehe
auf dem weißen Fluss durch einen weißen Wald
und mit mir gehen
der weiße Mond
und die weiße Sonne.
Ich gehe
über den weiten Fluss
in dem weiten Wald
Und gehe
weit und frei
im weiten, freien Land
des
weißen Wolfes
meine Worte
Wackersteine
füllen
seinen
Bauch
Rumpelstilzchen
Ach, wie gut, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!
Hab zwei Kindlein umgebracht
in der alten Mitternacht.
Heute back ich –
freuts mich?
Morgen brau ich –
reuts mich?
Eine alte Sage
lässt mich nimmer los
von den Königskindern
von dem Königssohn
Hab ein kleines Häuschen
dicht am Meeresstrand –
ach, wie gut, dass niemand weiß
dass ich Rumpelstilzchen heiß.
Hab zwei Waisenkinder
und ein Waisenhaus
hab gebacken und gebraut
lang aufs Meer hinausgeschaut
Heute leb ich –
freuts mich?
Morgen sterb ich –
reuts mich?
Eine alte Sage
lässt mich nimmer los
von der falschen Norne
von der Königin
Da ist ein dunkles Wäldchen
dicht am Meeresstrand –
ists nicht gut, dass niemand weiß
dass ich Rumpelstilzchen heiß?
Hab den Jäger sterben lassen
nicht gebacken, nicht gebraut
nur aufs Meer hinausgeschaut
keine Trän getrocknet
Heute tanz ich –
freuts mich?
Morgen wein ich –
reuts mich?
Sags mir,
Königin!
Hab zwei weiße Kerzen im Fenster angezündt
die alte Mär im Herzen
flackert leis im Wind –
obs wohl wahr, dass niemand weiß
dass ich Rumpelstilzchen heiß?
Es war die alte Sage
die mich hierher rief
von den Königskindern
die ertranken tief –
Von der falschen Norne, von der Königin
von dem Königssohne, dem die Kerze schien –
der Königin Kind.
Habe Brot gebacken
habe Bier gebraut
hab Gold zu Stroh gesponnen
und aufs Meer geschaut –
Ich nahm die Kerzen beide
habs Häuslein angezündt
Es lodern hell die Flammen:
Leuchtfeuer, Königskind.
Und rundherum ums Feuer
im Wald nah bei der See
tanzt ruhelos mein Schatten
jede Nacht
hab gedacht
dass niemand weiß
dass ich Rumpelstilzchen heiß